AUSZÜGE aus dem Beitrag

Die Unterstützung der elektronischen Industrie

von Horst Müller und Klaus Rösener

erschienen in :

"Die Industriespionage der DDR / Die Wissenschaftlich-Technische Aufklärung der HV A" 

Autoren: Horst Müller, Manfred Süß, Horst Vogel (Herausgeber)

 "2008 edition Ost" im Verlag "Das Neue Berlin"; ISBN 987-3-360-01099-5 

 

Auswahl der Auszüge erfolgte zum Kontext der WEB-Site zum DDR-Anteil am ESER

 

 

Übersicht :

 

Die elektronische Datenverarbeitung. PAGEREF _Toc211767423 \h 2

Der Vorrang der Mikroelektronik. PAGEREF _Toc211767424 \h 6

Der Einstieg. PAGEREF _Toc211767425 \h 6

Der Mikroprozessor U 880. PAGEREF _Toc211767426 \h 8

Die Speicherschaltkreisentwicklung. PAGEREF _Toc211767427 \h 10

Die Beschaffung von Spezialausrüstungen für die Mikroelektronik. PAGEREF _Toc211767428 \h 11

Die Beschaffung von Informationen auf dem Gebiet der Elektrotechnik/Elektronik stand auf der Prioritätenliste der Wissenschaftlich-Technischen Aufklärung von Anfang an ganz vorn. Die elektrotechnische Industrie auf dem Gebiet der DDR hatte einen hohen Stellenwert. Das lag an ihrer Tradition wie auch am Anteil an der Industrieproduktion, und der war groß.

Das Ziel bestand in der Unterstützung ihrer Entwicklung, der Erhöhung ihrer Produktivität und Effektivität sowie ihrer Orientierung auf neue Entwicklungsrichtungen und Erzeugnisse.

Unsere Zielobjekte waren vor allem die führenden Konzerne der Branche in der Bundesrepublik Deutschland, in den USA und Japan. In den ersten Jahren der Arbeit ging es vor allem darum, in diesen Objekten Fuß zu fassen und Positionen aufzubauen, die in späteren Jahren wirksam werden konnten. Die Schwerpunkte lagen zunächst im Elektromaschinenbau, bei Elektromotoren, der Kabelherstellung und Starkstromtechnik. Wir interessierten uns aber auch für Nachrichtentechnik, Feinmechanik und Optik.

Mitte der 60er Jahre rückten die Elektronik und die elektronische Datenverarbeitung, später die Mikroelektronik, ins Zentrum der Wirtschaftspolitik der DDR und damit auch der Informationsbeschaffung der Wissenschaftlich-Technischen Aufklärung.

Die elektronische Datenverarbeitung

Die EDV-Anlage mit Betriebssystemsoftware

[ .... ] 

 Der R 300 wurde ab 1967 produziert. Sein technisches Niveau reichte jedoch nicht aus, ihn zu einem international vergleichsfähigen elektronischen Rechnersystemen zu entwickeln.

 

Das zu jener Zeit von der Partei- und Staatsführung beschlossene Datenverarbeitungsprogramm orientierte auf die Herstellung leistungsfähiger Analog-, Hybrid- und Digitalrechner einschließlich der kompletten Betriebssystem-Software. Bei der Durchsetzung dieses Programms waren die DDR-Kapazitäten auf sich angewiesen, weil alle Versuche zur Nutzung international vorhandener Lösungen an der Embargo-Politik der westlichen Länder scheiterten.

Der VEB Elektronische Rechenmaschinen Karl-Marx-Stadt wurde mit den Hauptentwicklungen beauftragt. Weitere Entwicklungsstellen und Hochschulpotentiale wurden zugeordnet. Es wurden die besten der von den DDR-Hochschulen ausgebildeten naturwissenschaftlichen und technischen Kader eingesetzt. In der vorgegebenen Frist war es nicht möglich, gleichzeitig die umfangreichen konzeptionellen und technischen Entwicklungen von Software, Geräten und Technologien zu leisten, ohne daß Hilfe von außen in Anspruch genommen worden wäre.

Die entscheidende Unterstützung kam vom Sektor Wissen­schaft und Technik der HV A. Uns war es gelungen, Mitte der 60er Jahre im führenden EDV-Unternehmen der Welt, dem USA-Konzern IBM (International Business Machines), eine Quelle an einer für die EDV-Entwicklung entscheidenden Position zu schaffen ( Hervorhebung : G.Ju.) . Dadurch war es möglich, daß ab 1966 über viele Jahre hinweg Entwicklungsdokumente von IBM unmittelbar nach ihrer Verfügbarkeit in die DDR gelangten und für die Eigenentwicklung ausgewertet und aufbereitet werden konnten. Es begann mit den Dokumentationen des IBM-System 360, Modell 40, aus der IBM-Modell-Reihe 360 vom Klein- bis zum Großrechner.

Über diesen Kanal hatten wir einen kontinuierlichen Informationsfluß, sodaß die wenigen Mitarbeiter von SWT kaum mit der Bearbeitung des noch in Papierform bereitgestellten Materials nach­kamen. Wir mußten insbesondere die Herkunft des Materials »neutralisieren«, um unsere Quelle zu schützen, ehe wir die Papiere weitergaben. In der Industrie wurde begonnen, hauptamtliche Auswerter einzusetzen. Sie erhielten die Aufgabe, die Dokumente zu sichten und systemgebunden aufzubereiten. Das war anfangs nicht mit schnellem Erkenntnisgewinn verbunden, da es sich bei der Masse der Informationen nicht immer um geschlossene Zusammenhänge, beispielsweise Gesamtübersichten, Zentrale Verarbeitungseinheiten, Steuereinheiten, Haupt- und andere Speicher, Software etc., handelte.

Der Umfang der Dokumentationen war beträchtlich. Bereits die Anwender- Dokumentationen zum Betreiben der Rechenanlage füllten mehrere große Aktenschränke. Entwicklungsdokumentationen waren mehr als zwanzigmal so umfangreich. Dennoch vervollständigte sich nach wenigen Wochen das Zusammenhangwis­sen erheblich, so daß sich zunehmend das Gesamtbild für eine gezielte Nachentwicklung abzuzeichnen begann. Unser großer Vorteil bestand darin, daß die Quelle bei IBM gezielt nach unseren Wünschen an der Vervollständigung des Materials arbeitete.

Und nicht unerwähnt soll die verantwortungsvolle Arbeit der Kuriere sein, die diese gewaltigen Mengen an Material unerkannt und sicher in die DDR schleusten.

Nach zwei Jahren begann IBM die Entwicklungsunterlagen auf Mikrofiches zu dokumentieren. Das erleichterte uns die Arbeit. Die entsprechende Lesetechnik wurde sehr schnell von unserem optischen Gerätebau entwickelt. Der Arbeits- und Zeitaufwand zur Bearbeitung konnte nunmehr erheblich reduziert werden.

Nach einer mehrtätigen Klausurtagung entschieden die EDV-Fachleute, alle Kraft auf die elektronische Datenverarbeitung in der DDR auf die Nachentwicklung des IBM-Systems 360 zu konzentrieren. Diese Festlegung löste erneut viele Informationswünsche an die Quelle bei IBM aus. Besonders die Software für das Betriebssystem stand sofort im Mittelpunkt des DDR-Wunschprogramms. Den Experten der DDR war klargeworden, daß nicht einmal alle Programmierer und Mathematiker aller sozialistischen Länder ausreichen würden, um in vertretbarer Zeit ein Betriebssystem eigenständig zu entwickeln.

Fast zur gleichen Zeit wurde im Kreis von Arbeitsgruppen -anfangs im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), weiterführend auf bilateraler staatlicher Ebene - eine gemeinsame und einheitliche Entwicklung eines EDV-Systems beraten und eingeleitet. In den vielseitigen bilateralen Abstim­mungen unter sowjetischer Federführung waren die durch die umfangreichen SWT- Unterstützungen gut vorbereiteten und umfassend informierten Fachleute und Auswerter der DDR ver­treten, Sie brachten die entscheidenden Beiträge für die Systemkonzeption ein.

Im Ergebnis der sehr prinzipiell geführten Abstimmung wurde die von der DDR vertretene EDV-Konzeption aufgegriffen, weil sie sich am Primus der Branche orientierte und von der DDR bereits wichtige Vorleistungen erbracht worden waren. Am Ende entstand das Einheitssystem Elektronischer Rechentechnik (ESER) der RGW-Staaten.

Es wurden einzelnen Staaten bestimmte Aufgaben übertragen. Die VR Polen entwickelte und produzierte das Modell R30 (kleines Modell), die DDR das Modell R 40 (mittelgroßes Modell) und die Sowjetunion die Modelle R 50 und R 60 (große Modelle), wobei die Software für die Betriebssysteme arbeitsteilig durch die Sowjetunion und die DDR bereitgestellt werden sollten.

Für SWT ergab sich daraus ein wesentlich erweitertes und komplizierteres Unterstützungsprogramm durch die operative Aufklärung. Einerseits mußten die Hardware-Weiterentwicklungen, insbesondere die Weiterentwicklung des IBM-System 370 verfolgt werden, und andererseits wurde die Nachentwicklung des Betriebssystems OS-MVS (Operating System für maschinelle virtuelle Systeme) zum absoluten Schwerpunkt. ( siehe Anmerkungen auf der WEB-Site ) 

Dazu mußte der Source-Code, die Quellcode des Systems, besorgt werden. Der Quelltext ist der lesbare, in einer Program­miersprache geschriebene Text eines Computerprogramms. Er ist das bestgehütetste Geheimnis jeder Software-Entwicklung und wird unter strengstem Verschluß mit zusätzlicher personengebundener Zugangserfassung gehalten. Wir waren allerdings nicht die einzigen, die sich dafür interessierten. Wie uns Quellen bei Siemens und Fujitsi informierten, waren auch diese Konzerne dabei, die IBM-Betriebssystemsoftware zu knacken. Erfolglos. Das bewiesen die Entwicklungsarbeiten von Siemens und Fujitsu zur Entwicklung des Betriebssystems 3000, welche schon nach etwa zwei Jahren gescheitert waren. Das vorhandene Betriebssystem 2000 wurde daraufhin mit Siemens EDV-Anlagen fast nur auf dem westdeutschen Markt und das auch nur durch die Unterstützung der staatlichen Lobby weiter zum Einsatz gebracht.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis unsere Quelle das IBM-Datenverarbeitungsbetriebssystem unbemerkt kopieren konnte. Viele Legenden waren notwendig, und die Zählwerke am Computer und an der Magnetbandeinheit mußten für den Kopierzeitraum außer Betrieb gesetzt werden, damit niemand im IBM- Konzern mitbekam, was hier geschehen war. Zwölf große und hochdicht beschriebene Magnetbändern konnte wir unserer Industrie zur Betriebssystementwicklung übergeben.

Weiterhin beschafften wir umfangreiche Entwicklungsinformationen zum IBM-System 370 und erste Magnetbänder mit dem aktuellen IBM-Betriebssystem. Aus den Erkenntnissen wurden die Hardware-Forderungen für die DDR-Industrie abgeleitet, insbesondere zur Entwicklung der erforderlichen integrierten Logik- und Bauelemente.

In einer in Karl-Marx-Stadt neu errichteten Entwicklungsstelle des Kombinats Robotron wurden Ende der 60er Jahre alle technischen Voraussetzungen für die entwicklungsseitige Übernahme des IBM-Betriebssystems geschaffen. Dazu gehörten vor allem ein IBM-System 360 mit umfangreicher Peripherie, darunter eine Magnetbandeinheit mit 6.250 bpi (später im Kombinat Carl Zeiss Jena hergestellt), Wechselplattenspeicher mit 100 MB-Wechselplatten von CDC (Control Data Corporation, USA), die später mit 60 MB-Kapazität in Bulgarien produziert wurden, sowie eine große Anzahl von Monitoren.

 

Die Nachentwicklung vollzog sich so: ( siehe auch hierzu wesentliche Anmerkungen auf der WEB-Site )

In einem Robotron-Rechenzentrum wurden die IBM-Daten von den Magnetbändern auf Wechselplatten überspielt. Dann holten sich die Auswerter die IBM-Daten in Schritten auf ihren Monitor. Sie änderten die spezifischen IBM-Erkennungsdaten in Robotron-Daten mit gleicher Wortlänge um, fertigten eine Beschreibung der erkannten Programmfolge und speicherten das Ergebnis als Robotron- Entwicklung. Dieser Vorgang wiederholte sich so oft, bis das eigene Betriebssystem in der verfügbaren Version komplett war.

Diese Arbeiten wurden von SWT laufend durch aktuelle Soft­ware-Informationen unterstützt. Die ständige Aktualisierung durch uns erfolgte bis zum Ende der 80er Jahre.

Internationale Einschränkungen in Form von Patenten, unter anderem für die Nutzung der so gewonnenen Software, gab es nicht.

Ergänzungen in Form von Anwendungsprogrammen wurden durch verschiedene Quellen zusätzlich an das Kombinat Robotron zeitversetzt übergeben, wie ALGOL (Algorithmic Oriented Lan-guage), COBOL (Common Business Oriented Language), FORT­RAN (Formula Translation) und in den 80er Jahren ORAKEL als Informations-Recherche und Verarbeitungssystem (z. T. in Quell­code).

Welchen Wert diese SWT-Unterstützung für die DDR-Wirt­schaft hatte, wurde offensichtlich, als Unterlagen aus einem Pro­zeß »CDC gegen IBM« vorlagen, der 1970/71 stattfand. Daraus wurde ersichtlich, daß IBM etwa zwei Milliarden Dollar Gesamtkosten für diese Entwicklung aufgebracht hatte, wobei etwa die Hälfte davon in Vorhaben gesteckt wurden, die sich als Fehlent­wicklungen erwiesen.

Die DDR investierte in die Adaption des Betriebssystems etwa 200 Millionen DDR-Mark. Daraus ist ersichtlich, welch hoher ökonomischer Nutzen die operative Tätigkeit des Sektors Wis­senschaft und Technik gebracht hatte. Die DDR allein hätte es ohnehin nicht vermocht, die immensen Kosten aufzubringen, die IBM investiert hatte.

Die Produktion des Robotron R 40 wurde Ende der 60er Jahre in Dresden vorbereitet. Von 1973 bis 1979 wurden etwa 470 Stück gefertigt. Dabei zeigte sich, daß neue Erfordernisse im Änderungsdienst, anders als es bisher in der DDR üblich war, not­wendig wurden.

Aus IBM-Informationen wurde bekannt, dass entwicklungsbedingte Änderungen an Produkten innerhalb des IBM-Konzerns in einer Stunde bereits weltweit produktionswirksam waren. Was lag also näher, als sich in die Übermittlung der Änderungsdaten einzuklinken. Wir schafften es, daß bei Robotron eine Kabelver­bindung zwischen dem Rechenzentrum der Entwicklungsstelle und dem Produktionsbetrieb eingerichtet wurde, um möglichst kurze Überleitungszeiten bei Änderungen zu erreichen.

Nach dem Produktionsbeginn der EDV-Anlage R 40 kam Robotron schon in den 70er Jahren aus den »roten Zahlen« und erwirtschaftete einen jährlich wachsenden Gewinn. Dieser kam vor allem durch Exporte der EDV-Anlagen in die Länder des RGW und in arabische Staaten, zum Beispiel Ägypten zustande. Ein R 40 ging sogar an den Computer-Hersteller CDC in den USA. CDC kaufte den R 40 von Robotron ohne Betriebssystem. Eine Quelle berichtete, daß CDC ein gekauftes IBM-Betriebssy­stem auf der Robotron- Anlage auf seine Lauffähigkeit testen wollte. Das funktionierte, natürlich. Es wäre zwar ein wenig langsamer als das Original von IBM gelaufen, was der DDR-Hardware zugeschrieben wurde. Aber es lief.

Das war natürlich ein Betriebsunfall für uns. Es war abzuse­hen, daß diese Nachricht branchenintern in den USA verbreitet werden würde. Wir mußten darum unsere beiden Spitzenquellen bei IBM für einige Monate stilllegen, um sie nicht zu gefährden. Die eigenen Arbeiten in der DDR störte dies zu jenem Zeitpunkt nicht wesentlich.

Bei den EDV-Modellen, die im Rahmen des ESER durch andere RGW-Staaten entwickelt wurden, gab es erhebliche Qua­litätsunterschiede. Dies zeigte sich auf der ESER- Ausstellung in der ersten Hälfte der 70er Jahre in Moskau. Die DDR-EDV-Anlage war die einzige, die ohne Probleme die Entwicklungsziele vollständig nachweisen konnte und auch als erste von der Aus­stellungsabnahme als »ausstellungsbereit« erklärt worden war. Seitdem war die Nachfrage nach der R 40 stets so groß, daß Robotron den Bedarf im Inland und für den Export kaum decken konnte.

[……. ]

Der Vorrang der Mikroelektronik

Der Einstieg

Die Unterstützung der Entwicklung mikroelektronischer Bauelemente in der DDR durch den Sektor Wissenschaft und Technik sollte sich als die größte operative Herausforderung für die Wissenschaftlich-Technische Aufklärung erweisen. Die führenden Unternehmen auf diesem Wissenschaftsgebiet befanden sich in den USA und in Japan, also in Übersee und damit weit außerhalb unseres bisherigen Hauptoperationsgebietes Westeuropa.

Hinzu kam, daß - im Unterschied zur EDV-/PC-Technik, wo Entwicklung und Produktion weit gestreut und an vielen Orten aufklärbar waren - hier eine punktgenaue operative Ortung erforderlich war, um auf Technologien, Musterbauelemente und Herstellungsgeräte zugreifen zu können. Das erhöhte die operative Anforderungen und auch Aufwendungen.

Die Analyse zeigte, daß sich in den Vereinigten Staaten die entscheidenden Entwicklungen bei den integrierten Mikroprozessorbauelemente vollzogen, während man sich in Japan auf die Mikrominiaturisierung in der Herstellungstechnologie konzentierte. Das betraf insbesondere passive Chipbauelemente und Speicherschalt-kreise.

Die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR begann mit der Transistortechnik Ende der 50er Jahre und der Gründung der ersten Halbleiterfabrik in Markendorf bei Frankfurt/Oder. …..

 

Der Mikroprozessor U 880

Mitte der 70er Jahre drängte die Einführung der Personal-Com­puter-Technik, um vor allem die traditionellen Maschinen-, ins­besondere Werkzeugmaschinenexporte der DDR international wettbewerbsfähig zu halten. Das Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik stellte daher die Aufgabe, im Kombinat Mikro­elektronik die erforderlichen Mikroprozessoren zu entwickeln. Der 1977 auf dem 6. ZK-Plenum gefaßte Beschluß, auf den bereits verwiesen wurde, führte dazu, die Entwicklungsarbeiten auf allen damit verbundenen Gebieten zu forcieren.

Wir beschafften Entwurf und Technologie der Mikroprozes­soren INTEL 8080 und ZILOG Z 80 aus dem kalifornischen Sili­con Valley. Es erwies sich als günstig, daß das Territorium, in dem die weltweit führenden amerikanischen Mikroelektronik-Exper­ten angesiedelt waren, sehr überschaubar war. Bei einem Firmenwechsel mußten sie nicht einmal umziehen. Für langfristig angelegte operative Maßnahmen waren das ideale Voraussetzungen.

Unter Ausnutzung dieses Umfelds konnten operativ wichtige Schlußfolgerungen für Nachentwicklungen ausgereifter Mikroprozessor-Schaltkreise in der DDR gezogen werden. Es wurden schließlich in rascher Folge 8-bit-Mikroprozessoren von ZiLOG, wie der Z80, und INTEL mit den Reihen 8008, 8080 bis 8086 und 8088 bis zum 16bit-Mikroprozessor INTEL 80286 angeboten werden.

Für die DDR-Entwicklungskräfte im Funkwerk Erfurt war es aufgrund dieser Vielfalt der Mikroprozessorlösungen jedoch außerordentlich problematisch, die Vor- und die Nachteile der einen oder der anderen Lösung zu erkennen. Erst Klausurtagun­gen unter Einbeziehung der Auswertungsergebnisse aus den von SWT übergebenen Dokumenten führten zu der damals richtigen Entscheidung zugunsten des Z80. Mit einer der US-Technologie angepaßten DDR-Herstellungsvariante gelang der Nachbau des Z 80. Er wurde als erster DDR-Mikroprozessor mit der Bezeichnung U 880 auf den Markt gebracht. Die DDR gehörte damit zu den ersten Herstellern von Mikroprozessoren in Europa. Vermut­lich waren wir überhaupt die ersten auf dem Kontinent.

Wir wußten nicht, wie weit die Sowjetunion war, und der in Westeuropa führende Halbleiterhersteller Siemens bot noch keine Mikroprozessoren an.

Das Erfurter Entwicklungsergebnis trug sofort dazu bei, die PC-Produktion im thüringischen Büromaschinenwerk Sömmerda kontinuierlich zu steigern. Nach der Inbetriebnahme einer neuen Chipfabrik im Kombinat Mikroelektronik konnten bald jährlich rund 150.000 PC ( ?) produziert werden.

 

Die DDR und die Sowjetunion waren die einzigen RGW-Länder, die in dieser Halbleiterentwicklungslinie tätig waren. Auf­grund des Embargos gegenüber den sozialistischen Ländern bestand im RGW große Nachfrage nach dem U 880, insbeson­dere von Bulgarien, wo es eine PC-Fertigung gab.

Aus dieser Monopolstellung konnten wir nicht viel machen. Die Produktionskapazitäten im Funkwerk Erfurt blieben begrenzt, weil die nötigen Investitionen zur Erweiterung nicht kamen. Das operativ beschaffte Technologieniveau mit Entwurfsdokumenten gestattete es zwar, die EDV-Logikelemente höher zu integrieren und beispielsweise mit Hilfe eines Schachgroßmeisters der DDR einen ersten Schachcomputer in der DDR herzustellen. Doch die notwendige Massenproduktion der PC-Bauelemente blieb hinter der Nachfrage zurück.

Ende der 80er Jahre begann der Übergang zur 16-bit-Mikro-prozessorlinie. Als Zieltyp der Entwicklung wurde der INTEL 80286 ausgewählt, weil von dort die besten Ergebnisse bekannt wurden. ZiLOG war 1980 an Exxon verkauft worden und damit als Hersteller von Mikroprozessoren untergegangen. Das neu im Geschäft aufgetauchte US-Unternehmen Advanced Micro Devices (AMD) brachte lediglich INTEL-Entwicklungen zeitverzögert auf den Markt.

Trotz knapper Valuta-Kassen wurde die operative Beschaffung für Entwicklungs-dokumentationen aufgenommen.

Im Entwicklungsplan der DDR-Halbleiterindustrie war [auch]der  Coprozessor von INTEL für schnellere mathematische Berechnungen vorgesehen. Es war jedoch nicht möglich, operativ ein geschlossenes Paket von Technologie und Entwurf zu beschaffen. INTEL hatte die Sicherheitsvorkehrungen offensichtlich wegen der AMD-Konkurrenz ganz wesentlich verschärft. So blieben die unterstützenden Maßnahmen zunächst auf die Bereitstellung von technologischen Teilen und eines Rasterelektronenmikroskops beschränkt. Jedoch gelang die Beschaffungen von Entwicklungsmustern der 16-und 32-bit-Reihe, 80286 und 80386 sowie 80486. Dieser 486er war eine Weiterentwicklung des 386 ers und der letzte Prozessor, der in seinen ersten Baumustern noch ohne aktive Kühlung auskam. Entsprechend dimensioniert war die Gehäuselüftung.

Aufgrund dieser Probleme bei der Entwicklungsunterstützung mußten die Strukturen der Schaltkreise Mikrometer für Mikrometer abgetragen und mit dem Rasterelektronenmikroskop rekonstruiert werden, was zeitlich aufwendig war, aber zum Erfolg führte. Das Fehlen einer neuen Fabrik für dieses Technologieniveau, weil die Investitionsmittel fehlten, bereitete weitaus größere Schwierigkeiten.

Bei den technischen Untersuchungen des INTEL 80486 erkannten die Fachleute im Funkwerk Erfurt, dass aufgrund der erforderlichen hohen Elektronenströme die physikalischen Grenzen der minimalisierten Leiterbahnen erreicht waren. Ohne Kühlung des Mikroprozessors waren die bei der Betriebswärme stei­genden Widerstandswerte nicht zu beherrschen. Man begann sich Gedanken zu machen, diese Grenze zu überwinden….

Nach 1990 war der Bundesnachrichtendienst sehr daran interessiert zu erfahren, wie es möglich gewesen sei, dass man in der DDR schon über Muster des INTEL 80486 verfügte, während man in der BRD nicht einmal dessen Bezeichnung kannte.

 

Die Speicherschaltkreisentwicklung

Das Mikroelektronik-Programm forderte die Entwicklung von Speicherschaltkreisen, die ebenso wie Mikroprozessoren für breite Industrie-Anwendungen nötig waren. Die Entwicklungs- und Pro­duktionsvoraussetzungen waren mit der Bildung des Kombinates Mikroelektronik in Erfurt mit einigen Halbleiterfabriken geschaffen worden. Zu diesen neuen Strukturen gehörte auch das Halbleiterwerk Frankfurt.

In Dresden- Klotzsche wurde ein modernes Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik (ZFTM) errichtet, um dort die nächsten Generationen von Schaltkreisen zu entwickeln. Es entstand im Bereich der ehemaligen Flugzeugwerft und des Instituts für Automatisierungstechnik. Zu diesem moderner Komplex gehörten ein Halbleiter- Entwurfszentrum, die Technologie-Entwicklung und erste Produktionsstätten unter höchsten Automatisierungs- und Clean- Room- Bedingungen.

Das ZFTM wurde dem Kombinat Carl Zeiss Jena zugeordnet, welches hoch integrierte Speicherschaltkreise aus Dresden forderte. Die Forderung lautete, 1988 einen 1-Megabit-DRAM (dynamischer Schreib- und Lesespeicher) und einen 250-Kilobit-SRAM {statischer Schreib- und Lesespeicher) in die Produktion zu überfuhren.

 

Beide Schreib- und Lesespeicher-Schaltkreise waren auf gleich hohem Technologieniveau herstellbar. Sie unterschieden sich lediglich in der Zugriffsgeschwindigkeit auf die Daten. Der schnellere, statische RAM hatte einen höheren Leistungsdurchsatz und konnte daher nur eine um eine Stufe geringere Speicherkapazität realisieren. Er war jedoch für schnelle Steuerungsprozesse erforderlich.

Die in der vorgegebenen Zeit möglichen Entwicklungen und Produktionsvorbereitungen waren in Dresden beim 256-KB-DRAM erschöpft, weil sich danach völlig neue Dimensionen auftaten. So lag auf der Hand, daß Dresden durch den Sektor Wissenschaft und Technik unterstützt werden mußte, um die Zielstellung im ZFTM zu erreichen.

Das auf diesem Gebiet führende Unternehmen war der Tos­hiba-Konzern in Japan, der gerade die für die DDR-Zielstellung vorgesehenen DRAM und SRAM mit einer einzigartigen Technologie realisiert hatte.

Durch eine unserer Quellen bei Siemens wurde bekannt, daß auch der Siemens-Konzern seit geraumer Zeit als einziges Technologieunternehmen in Westeuropa an dieser Aufgabe arbeitete. Da aber Siemens ähnlich wie das Dresdner Zentrum für Forschung und Technologie nicht so recht vorankam, hatte sich Siemens wegen der Bedeutung dieser Bauelemente dafür entschie­den, die relativ teure komplette Produktionslizenz bei Toshiba zu erwerben.

Die DDR partizipierte sofort von diesem Einkauf. Alle Unterlagen, die bei Siemens zur Lizenznahme gehörten, gelangten in ihrer Originalfassung aus dem Siemens-Einwicklungszentrum in den Besitz der DDR. Der Aufbau von operativen Verbindungen im oder zum Toshiba-Konzern wären erheblich riskanter und die Zeitvorgaben für die Entwicklung kaum einzuhalten gewesen.

Die Technologie war das entscheidende Problem, denn der Schaltkreis war durch die gleichmäßigen Strukturen nicht so kompliziert zu enträtseln. Allerdings mußten auch Ausrüstungen für die Herstellung der Strukturen beschafft werden. Die besondere Leistung der DDR-Technologen bestand nun darin, die beschaffte Technologie an den in der DDR vorhandenen Ausrüstungspark in der Mikroelektronik anzupassen. Und es gab einen Zeitfaktor für die Technologiedurchläufe im ZFTM. Erst jeweils nach drei Monaten konnte festgestellt werden, ob nur Ausschuß oder funktionsfähige Chips auf der Siliziumscheibe waren. Nach Fehlversuchen wurden die Durchläufe variiert und zeitversetzt gestartet, um Zeit zu gewinnen. Trotzdem war der Termin für die Übergabe des ersten funktionsfähigen 1-Megabit-Speicherschaltkreises an den General­sekretär des ZK der SED bereits festgelegt. Das war der 12. Sep­tember 1988.

Es gelang, funktionsfähige Chips rechtzeitig herzustellen.

Ein unerwartetes Problem mit dem Chip-Gehäuse wurde durch eine operative Sofortaktion mit einem bei Siemens genutz­ten Gehäuse noch in letzter Minute gelöst.

Die Bemühungen des Verfassungsschutzes der BRD, nach 1990 über ehemalige Mitarbeiter des Sektors Wissenschaft und Technik herauszufinden, wie die Siemens-Technologieunterlagen in die DDR gelangt waren, verriet uns, dass dort die Zusammenhänge zwischenzeitlich aufgearbeitet worden waren.

 

Die Beschaffung von Spezialausrüstungen für die Mikroelektronik

Um in der elektronischen Industrie in möglichst kurzer Zeit ein hohes, international vergleichbares Technologie-Niveau zu erreichen, war eine große Anzahl unterschiedlicher Spezialausrüstungen erforderlich. Für ihre Bereitstellung aber fehlte es in der DDR einerseits an eigenen Kapazitäten, andererseits verhinderte die westliche Embargo-Politik deren Erwerb auf dem Weltmarkt. Der dafür zuständige Außenhandelsbetrieb konnte jedenfalls nicht in vollem Umfang seinen Auftrag realisieren.

Obwohl es nicht ihrer spezifischen Aufgabenstellung entsprach, stellte sich die Wissenschaftlich-Technische Aufklärung die Aufgabe, durch ihre Unterstützung einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten. Nach internen Vorbereitungen wurde mit dem Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik vereinbart, dass wir in die Beschaffung einbezogen wurden. Ab Ende der 70er Jahre nutzten wir dafür vorhandene operative Verbindungen oder entwickelten neue. Schwerpunkte waren zunächst die Bereitstellung geeigneter leistungsstarker Computer mit hoch auflösen-den großen Bildschirmen und Plottern für den Schaltkreisentwurf in den Entwicklungsbereichen der Halbleiterwerke des Kombinates Mikroelektronik. Im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder wurden bald »Sun-Rechner« eingesetzt. Für andere Standorte im Kombi­nat Mikroelektronik und dem ZFTM in Dresden wurde eine Viel­zahl von Mini- und Mikrocomputer unterschiedlicher Konfigurationen einschließlich der entsprechenden Betriebssysteme der ver­schiedenen Firmen bis zu den modernsten und größten VAX-Rechnern (u. a. VAX 8600) der Firma Digital Equipment Corpo­ration beschafft.

Aber auch umfangreiche Ausrüstungen für den unmittelbaren Produktionsprozeß der Mikroelektronikbetriebe in Frankfurt, Erfurt und Dresden wurden besorgt. Dazu gehörten vor allem Justier- und Belichtungseinrichtungen für die Strukturierung der Siliziumscheiben, Plasma- Ätzer und Diffusionsanlagen sowie Automatik- Bonder für die Verbindung der einzelnen Chips zum Gehäuserahmen und der automatischen Verdrahtung von Chip und Gehäuseanschlußbeinen mittels Edelmetallfäden.

 

Als für das Technologieniveau des 1 -Megabit-Speicherschaltkreises und des 16-bit-Mikroprozessors die aus der UdSSR bezogenen Ausrüstungen für die chemischen Bearbeitungstechnologien und die Ionen- Implantation nicht mehr ausreichten, um eine Massenproduktion zu erreichen, stand Ende der 80er Jahre die Herausforderung vor uns, mindestens einen Hochenergie- Ionen-Implanter zu beschaffen. Das war notwendig, um die neu entworfenen Strukturen und Dotierungen auf dem Silizium-Wafer realisieren zu können.

Um die Dimension dieser Aufgaben zu verdeutlichen, sei darauf hingewiesen, dass diese Anlage strengsten Embargobestimmungen unterworfen war. Weltweit gab es nur drei Hersteller, und der potentielle Käuferkreis beschränkte sich auf wenige Konzerne. Mit Hilfe komplizierter operativer Kombinationen gelang es uns, über Zwischenstationen in Drittländern und hohen finanziellen Aufwendungen 1989 zwei solcher Anlagen der amerikanischen Firma Eaton zu beschaffen. Zu einer Inbetriebnahme in Dresden kam es aufgrund der politischen Ereignisse in der DDR jedoch nicht mehr. Auch die im Kombinat Carl Zeiss Jena getroffenen Vorbereitungen für den Nachbau dieser Spezialausrüstung waren damit hinfällig.

Der Sektor Wissenschaft und Technik der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS hat mit dieser Art der Unterstützung in den 80er Jahren in wichtigen Abschnitten der Mikroelektronik der DDR die Sicherheit und das Tempo der Entwicklung außerordentlich positiv beeinflußt. Die beschriebenen operativen Beschaffungen widerspiegeln allerdings nur einen Teil der der Industrie zugeführten Menge an technologischen Spezialausrüstungen. Die Finanzierung dieser Beschaffungen erfolgte ausschließlich über die betreffenden Bedarfsträger, das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik oder den Bereich Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenhandel (KoKo).

Finanzielle Mittel des MfS standen für solche Vorhaben in keinem Fall zur Verfügung